Publikationen des NGA

10 Goldene Regeln der Berufsorientierung für Nachhaltigkeit

© Dortmund at work_Roland Gorecki

Careers for Future

Was zeichnet eine zukunftsfähige Berufsorientierung aus, die sowohl die individuellen Anliegen als auch die mit der ökologischen Transformation verbundenen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt in den Blick nimmt? Gemeinsam mit den Mitgliedern und externen Bildungsexpert*innen hat das Netzwerk Grüne Arbeitswelt über ein Jahr lang Antworten auf diese Frage zusammengetragen – und diese nun in 10 Goldene Regeln der Berufsorientierung für Nachhaltigkeit überführt. Die Regeln sind somit das Ergebnis eines kollektiven Prozesses, der die Perspektiven und Erfahrungen verschiedenster Akteursgruppen beinhaltet

Text: Iken Draeger und Katja Driesel-Lange

Für wen und was?

Dementsprechend breit ist ihr Anwendungsfeld: Allgemein- und berufsbildende Schulen und außerschulische Bildungseinrichtungen ebenso wie Unternehmen, Verbände und Gewerkschaften sind eingeladen, ihre Berufsorientierungsaktivitäten an diesen 10 Goldenen Regeln auszurichten.

Die Regeln sind als Handlungsmaxime zu verstehen. Sie zeichnen einen Rahmen für die pädagogische Arbeit, der hoffentlich dazu beträgt, viele neue zukunftsweisende Berufsorientierungsangebote in die Praxis umzusetzen. Viele unserer Netzwerkmitglieder füllen diese Regeln in ihren Projekten und Aktivitäten bereits mit Leben. Von diesen Best Practices lässt sich lernen, deshalb sind sie in der begleitenden Präsentation verlinkt.

Download der Regeln

Präsentation mit Praxisbeispielen

Careers for Future – eine kurze wissenschaftliche Einordnung

Berufliche Orientierung im Kontext der Nachhaltigkeit kann unter dem Schlagwort „Careers for Future“ im wissenschaftlichen Diskurs mit einer doppelten Zielperspektive verbunden werden. Zum einen können Konzepte an die Aufgabe der Identitätsentwicklung im Jugendalter anschließen. Aktivitäten der beruflichen Orientierung sind neben der Bereitstellung von Gelegenheiten zur berufsbezogenen Exploration auch eine Hilfe zur Klärung der eigenen Interessen, Fähigkeiten und Werte. Der Fokus auf Nachhaltigkeit kann die zukunftsgerichtete Auseinandersetzung unterstützen. Zum anderen kann berufliche Orientierung für Nachhaltigkeit eine Verbindungslinie zwischen individuellen Anliegen und gesellschaftlichen Herausforderungen darstellen. Fragen und Zukunftssorgen Jugendlicher lassen sich in die Reflexion der (beruflichen) Gestaltungsmöglichkeiten und Exploration von „Zukunftsberufen“ integrieren. Mit einem solchen Verständnis können Angebote der beruflichen Orientierung zur Förderung der Berufswahlkompetenz gerade auch im Kontext von Nachhaltigkeit beitragen, wenn die für erfolgreiche Übergänge notwendigen Kernaktivitäten (vgl. OECD, 2021) den entsprechenden Bezug herstellen (vgl. Abb.).

© Katja Driesel-Lange

Die 10 Goldenen Regeln mit Kommentaren

1. Zugang zur nachhaltigen Arbeitswelt

Nehmen Sie die gesamte Arbeitswelt in den Blick, nicht nur die akademischen Berufe. Stellen Sie gerade auch das Potenzial der Ausbildungsberufe mit ihren Nachhaltigkeitsbezügen dar.

Zugänge für alle Menschen unabhängig von ihrem Bildungsabschluss bereitzustellen bedeutet, die Vielfalt der Berufslaufbahnen in der nachhaltigen Arbeitswelt über adressat*innengerechte Zugänge und Angebote zu kommunizieren. Über die verschiedenen Berufsfelder lässt sich beispielsweise zeigen, dass nicht nur Technikinteressierte in der nachhaltigen Arbeitswelt einen Beruf finden können, sondern auch diejenigen, die zum Beispiel im Bereich Planung, Verwaltung, Verkauf, Marketing oder Bildung arbeiten möchten. Was die jeweiligen Ausbildungs- und Studienberufe „grün“ macht, lässt sich über berufliche Tätigkeiten veranschaulichen.

2. Authentizität

Berufsorientierung für nachhaltige Entwicklung ist nur glaubwürdig, wenn sie authentisch und ergebnisoffen ist. Green Branding und beschönigende Darstellungen einer vermeintlich idealen Arbeitswelt sind zu vermeiden.

Trotz Fachkräfteengpässen in verschiedenen für die Energiewende relevanten Branchen darf Berufsorientierung nicht zur Berufslenkung werden. Auch nicht für den „guten Zweck“ und erst recht nicht mit unhaltbaren (Nachhaltigkeits-) Versprechen. Ein realistisches Bild der nachhaltigen Arbeitswelt transportieren am besten die Berufstätigen oder Auszubildenden selbst. Hier empfiehlt es sich, Kooperationen mit nachhaltigen Unternehmen in der Region anzubahnen (siehe auch Regeln 6 und 9).

3. Nachhaltigkeitskonflikte und Herausforderungen

Sprechen Sie Zukunftsängste, Unsicherheiten und Zielkonflikte in nachhaltigen Beschäftigungsfeldern offen an und nutzen sie diese zur Kompetenzerweiterung (z.B. Problemlösekompetenz, Resilienz, kritisches und vernetzendes Denken).

Zielkonflikte und Herausforderungen, mit denen sich die Unternehmen bei der Umsetzung ihrer Nachhaltigkeitsziele konfrontiert sehen, eigenen sich als Türöffner für die Diskussion und die Exploration von Gestaltungsspielräumen für nachhaltiges Handeln im Beruf. Im Austausch mit nachhaltigen Unternehmen über solche Fragestellungen entsteht eine lebendige, von den Interessen der Teilnehmenden geleitete Diskussion, die Raum gibt für kritische Nachfragen sowohl zur gesellschaftlichen Rolle der Unternehmen im Transformationsprozess als auch zu persönlichen Berufswegentscheidungen der dort Beschäftigten.

4. Praktische Erfahrungen

Schaffen Sie mehr Freiräume für praktische Erfahrungen in nachhaltigen Berufsfeldern. Ein Praktikum reicht nicht aus.

Vor allem junge Menschen möchten sich mehr ausprobieren, um herausfinden zu können, ob der anvisierte Beruf zu ihnen passt. Mehr Praxismöglichkeiten in berufsnahen Handlungssituationen würden in der Folge auch die Zahl der Ausbildungsabbrüche verringern. Wie solche Angebote aussehen können, zeigen die Mitglieder des Netzwerk Grüne Arbeitswelt. Ob Workcamps, Schülerlabore, Schülerfirmen und -genossenschaften, praxisnahe Workshops, Schnuppertage, Praktikumsplätze, FÖJ-Plätze oder Orientierungsangebote für Berufstätige, – aktuelle Optionen finden Sie im Angebotskompass auf diesem Webportal.

5. Kompetenzerleben und Selbstwirksamkeit

Ermöglichen Sie berufsnahe nachhaltige Handlungssituationen, in denen sich junge Menschen bzw. Berufsumsteiger*innen als kompetent erleben können.

Erfolgserlebnisse stärken das eigene Fähigkeitsselbstkonzept. Denn wer sich als kompetent wahrnimmt, entwickelt Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Aus der Forschung wissen wir, dass ohne das Gefühl der Selbstwirksamkeit entsprechende Berufe gar nicht erst in Betracht gezogen werden, was das Berufswahlspektrum erheblich einschränkt. Deshalb ist auch eine klischeefreie Berufsorientierung von entscheidender Bedeutung, die positive Erfahrungsräume in als untypisch wahrgenommenen Berufsfeldern ermöglicht. Kompetenzerlebnisse in realen (berufsnahen) Handlungssituationen sind besonders zielführend. Aber auch im geschützten virtuellen Raum eines Computerspiels oder einer VR-Lernanwendung lernen Spieler*innen dank integrierter Feedbackstrategien ihre eigenen Fähigkeiten besser einzuschätzen.

6. Persönliche Gespräche

Nicht nur direkte Erfahrungen, sondern vor allem persönliche Gespräche sind essenziell für die berufliche Orientierung. Nutzen Sie alle Möglichkeiten, die sich im Lehrplan, in der Institution selbst und im kommunalen Umfeld bieten, um Nachhaltigkeit im Beruf sichtbar und erfahrbar zu machen.

Besonders informelle Gespräche im Freundes- und Bekanntenkreis und in der Familie haben einen positiven Effekt, weil in diesem Kontext individuelle Bedarfe stärker aufgegriffen werden können (siehe Studie „Let’s Talk! Gespräche als Motor in der Beruflichen Orientierung“). Aufbauend auf die gängigen Formate – Potenzialanalyse, Praktikum und formelle Beratungsgespräche – erscheint es sinnvoll, (digitale) Lernanlässe für einen solchen reflexiven Austausch zu schaffen, so das Plädoyer der Autor*innen der Studie.

7. Gute Arbeit

Grüne Berufe sind nicht automatisch gute Berufe. Wecken Sie keine falschen Erwartungen, sondern initiieren Sie eine kritische Auseinandersetzung über Arbeitsbedingungen im Betrieb und entlang der Lieferketten.

Damit wird die soziale und globale Dimension nachhaltiger Arbeit, die Beschäftigungsbedingungen in den Unternehmen und entlang der Lieferketten, in den Blick genommen. Wie beim Thema Authentizität (Regel 2) gilt es auch hier, keine falschen Erwartungen zu wecken, sondern vielmehr eine kritische Auseinandersetzung über Arbeitsrechte, Mitbestimmungsmöglichkeiten, Gesundheitsschutz und Gerechtigkeitsfragen zu initiieren.

8. Lust auf Zukunft

Geben Sie Emotionen einen Raum und finden Sie heraus, was Ihre Zielgruppe wirklich bewegt. Machen Sie Lust auf Zukunft, indem Sie zeigen, wie sich Wünsche nach Sinnhaftigkeit im Beruf unter dem Nachhaltigkeitsgedanken aufgreifen und zusammen weiterentwickeln lassen.

In Krisenzeiten, die bei vielen Menschen starke Verunsicherungen auslösen (siehe z.B. 18. Shell Jugendstudie), ist es umso wichtiger, positive Zukünfte zu zeichnen und über Zukunftsängste, Zukunftswünsche, Verantwortungsbereitschaft und Engagement in Zusammenhang mit dem eigenen politischen Wirken sowie dem beruflichen Handeln zu sprechen. Über einen emotionalen Zugang gelingt es, auch diejenigen zu motivieren sich mit ihrer beruflichen Zukunft zu beschäftigen, die noch zweifeln oder gleichgültig wirken.

9. Inspirierende Vorbilder

Ermöglichen Sie Begegnungen auf Augenhöhe mit Nachhaltigkeitspionier*innen, Ausbildungsbotschafter*innen oder Beschäftigten nachhaltiger Unternehmen. Peer-to-Peer Ansätze entlang der Bildungskette sind besonders wertvoll.

Wie wichtig Vorbilder im Berufsfindungsprozess sind, ist hinlänglich bekannt. Arbeiten Sie deshalb, wenn Sie junge Menschen im Übergang Schule-Beruf adressieren, mehr mit Auszubildenden oder Studierenden zusammen, die ihre Ausbildungserfahrungen einbringen und sich als Mentor*innen engagieren können. Auch Livetalks auf Instagram mit Influencer*innen haben sich als ein passendes Instrument zur Ansprache und Beteiligung Jugendlicher erwiesen.

10. Nachhaltige Lernorte

Entwickeln Sie Ihre Bildungseinrichtung gemeinsam mit den Lernenden zu einem Lernort, der berufsbezogene Perspektiven im Kontext nachhaltiger Entwicklung aufzeigt.

Bei der Weiterentwicklung von Bildungseinrichtungen zu nachhaltigen Lernorten geht es um eine langfristige Perspektive im Sinne des Whole Institution Approachs. Die ganzheitliche Transformation von Lern- und Lehrumgebungen sollte nach Möglichkeit gemeinsam mit den Lernenden stattfinden, sie zumindest stark einbinden. Die Schaffung nachhaltiger Lernorte wird auch in der BNE-Roadmap 2030 als ein prioritäres Handlungsfeld der Bildung für nachhaltige Entwicklung definiert.

 

Abschließend soll noch auf die 10 Goldenen Regeln der Beruflichen Bildung für Nachhaltigkeit verwiesen werden, die wegweisend für diese Arbeit waren. Das Netzwerk Grüne Arbeitswelt plant die 10 Goldenen Regeln regelmäßig zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Kritik und Anregungen sind jederzeit willkommen: iken.draeger@wilabonn.de